Auf meinen Kanu-Touren merke ich oft, dass meinen Teilnehmern ein Gefühl dafür fehlt, was eigentlich ausgedehnte natürliche Augebiete so speziell macht. Daher möchte ich hier einmal näher darauf eingehen und ein bisschen Licht in die Sache bringen.
Man würde meinen, jeder Wald, der am Wasser liegt, sei ein Auwald. Dem ist aber leider heute nicht mehr so. Richtige Auwälder werden regelmäßig, zumeist zumindest einmal pro Jahr, von dem über die Ufer tretenden Fluss überschwemmt. Genau das ist bei den allermeisten unserer Flüsse heute nicht mehr gegeben. Dämme, die meist an beiden Ufern relativ direkt neben dem Fluss verlaufen, sowie eine künstlich begradigte Fließstrecke mit befestigten Ufern gehören in Mitteleuropa heute eher zur Regel. Wenn hinter dem Damm ein Wald ist, hat er in den allermeisten Fällen die Charakteristik eines Auwaldes verloren, oder ist im Extremfall eine Monokultur aus nicht mehr fortpflanzungsfähigen "Hybridpappeln".
Was aber unterscheidet naturbelassene Auwälder von einem mehr oder weniger bewirtschafteten Wald, der niemals mit Überschwemmung in Berührung kommt? Da kann man schnell mit einem Wort antworten: Artenvielfalt! Ein natürlicher Wald in einem Flusstal hat meist viele unterschiedliche Niveaus. Die Bereiche direkt am Ufer werden regelmäßig überflutet und sind einem ständigen Wechsel von Überflutung, Trockenfallen und Austrocknen ausgesetzt. Gleich dahinter folgen die ersten Bäume und Sträucher, die überflutungstolerant sind.
Näher am Wasser wird man verschiedene Weidenarten, aber auch zum Beispiel Erlen und Pappeln finden. Weiter hinten im Wald folgen Bäume mit mittlerer Überflutungstoleranz wie z.B. Esche und Ulme, aber auch Stieleichen können erstaunlich gut mit Wasser umgehen. Buchen und Fichten wird man im Auwald so gut wie gar nicht antreffen. Sie stehen meist dann erst auf Anhöhen weiter entfernt vom Fluss, wobei Fichten sowieso eher in höheren Lagen zuhause sind und nur vom Menschen in Tallagen gebracht worden sind.
Wenn man mit wachem Auge durch den Auwald geht, wird einem auffallen, dass es vom Fluss ausgehend ab und zu eine Höhenstufe gibt, wo es plötzlich einen halben Meter oder etwas mehr nach oben geht. Wenn man genau schaut, wird man sehen, dass oben oft ganz andere Pflanzen wachsen als unterhalb der Stufe. Das liegt natürlich an der Häufigkeit der Überflutung und was diese mit sich bringt.
Auwaldböden sind durch die häufigen Überflutungen mit dem von ihnen abgelagerten Schlamm nährstoffreicher. Man denke da nur an Ägypten, wo der Nil für die Fruchtbarkeit in dem sonst von Wüsten geprägten Land sorgt. Die Böden sind jedoch von ihrer Körnigkeit her oft feiner. Sie sind generell feuchter, zeitweise können sie sogar wassergesättigt sein. Das ist der Grund, warum im Auwaldboden auch Kleintiere wie die Springschwänze fehlen. Sie sind euch vielleicht schon einmal beim Umstechen im Gemüsegarten aufgefallen, wenn sie einem vom der Schaufel springen. Sie können im Auwaldboden wegen dem oft fehlenden Sauerstoff nicht überleben. Pflanzen wie die Weide helfen sich durch Luftwurzeln und luftleitendem Gewebe durch die nassen Zeiten. Alle Auwaldbewohner, ob Tiere oder Pflanzen, haben ihre eigenen Strategien entwickelt, mit dem Wasser umzugehen.
Die wechselnden Wasserstände stellen aber auch Wasserlebewesen vor Herausforderungen. Karpfen zum Beispiel laichen zwar auf den Auwiesen, wenn sie es aber nicht rechtzeitig zurück in den Fluss schaffen, sind sie ein Leckerbissen für Raubvögel. Andere Fische haben sich genau darauf spezialisiert: Der Schlammpeitzger (Misgurnus fossilis) wiederum kann auch im Schlamm trockenfallender Autümpel überleben, indem er den Sauerstoff nicht mehr über die Kiemen aus dem Wasser aufnimmt, sondern aus der Schwimmblase die Luft in den Darm drückt und so an ausreichend Luftsauerstoff kommt. Solange der Boden noch feucht ist, kann der Schlammpeitzger es dort eine Zeit lang aushalten.
Der Giebel (Carassius gibelio), eine andere Fischart, kann sehr warmes und sauerstoffarmes Wasser tolerieren und hat sich auf eine sehr schnelle Fortpflanzung verlegt. Die Giebelweibchen sind sehr früh geschlechtsreif und können sich auch ohne Männchen fortpflanzen. Dadurch stirbt zwar vielleicht das Individuum, aber der Arterhalt ist gesichert. All diese Fischarten nutzen Überflutungen aus, um sich weiter über die Auwälder zu verbreiten und an neuen Standorten zu überdauern.
Zuletzt möchte ich noch eine wahre Wunderpflanze ins Licht der Aufmerksamkeit rücken: den Schlammling (Limosella aquatica). Seine Samen liegen oft monate- oder gar jahrelang im Schlamm versteckt, bis das nächste Mal - meist nach Hochwässern - der Wasserspiegel zurückgeht und die freien Schlammflächen am Ufer übrig bleiben. Dann beginnt er seinen Wachstumszyklus, der auf Schnelligkeit getrimmt ist, denn man weiß ja nie, wann der Wasserspiegel das nächste Mal wieder steigt und dem Treiben ein Ende setzt. Er schafft es, innerhalb weniger Wochen zu keimen, seine Rosette auszubilden, zu blühen und zu versamen. Die Bestäubung der unscheinbaren Blüten kann er notfalls selbst übernehmen, Insekten sind dazu nicht unbedingt nötig.
Derlei Dinge zeigen glaube ich ganz gut, dass die Auen durch ihre Vielfalt an Klein- und Mikrolebensräumen die artenreichsten Ökosysteme überhaupt darstellen. Umso mehr ist es wichtig, sie nicht nur als vielfältigen Erholungsraum zu betrachten, sondern mit ihrer biologischen Vielfalt sogar - etwas weiter gedacht - als Nahrungsgrundlage auch für uns Menschen. Aber aus welchem Grund auch immer, sie sind auf jeden Fall sehr schützenswerte Lebensräume!